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Was kann Komplexitätsforschung?

Identifikation der zentralen Faktoren eines Systems

Nicht alle Elemente eines Systems sind gleich bedeutsam und gleich wichtig für das Zustandekommen des Systemverhaltens. Einige Elemente erscheinen bei genaueren Hinsehen als ausgesprochen aktive, mit vielen anderen Elementen in Wechselwirkung stehende Größen, wohingegen andere Elemente sich eher passiv verhalten, also eher beeinflusst werden, als selbst beeinflussen.

Andere Elemente stehen mitten im Geschehen, sind dreh- und Angelpunkt fast aller Vernetzungen. Und wieder andere Elemente stehen am Rande des Systems, sind wenig eingebunden und nur schwer von Außen zu erreichen.

Die Identifikation der zentralen Schlüsselelemente eines Systems ist eine der wichtigsten Aufgaben der Komplexitätsforschung. Neben den direkt am System beteiligten Variablen, sind es Faktoren wie die antreibende Energie im System und die Rahmen- bzw. Randbedingungen, die auf das Verhalten des Systems einen wichtigen Einfluss haben.

Gezielte Intervention und Steuerung eines Systems

Komplexe (soziale) Systeme können aufgrund der Rückkoppelungs- und Selbstorganisationsprozesse bzw. der interaktiven Wirkungszusammenhänge nicht von einem bestimmten Punkt aus zielgerichtet in eine gewünschte Richtung gelenkt werden. 

Die Steuerung eines komplexen Systems muss also von der Einsicht ausgehen, dass das zu steuernde System seinen eigenen Erwartungsstrukturen gemäß operiert, geschichtsabhängig ist, seinen inneren Zustand verändern kann, also lernfähig ist und damit in seinen Verarbeitungsprozessen nicht vorhersehbar ist. 

Es ist das intervenierte System selbst, das die Kriterien vorgibt, unter denen es bereit ist, sich beeinflussen zu lassen. Das System kann mittels Interventionen allenfalls zur Eigenaktivität angeregt werden. Dazu muss man aber die Wirkungsstrukturen und die sensiblen Druckpunkte des Systems identifizieren. Dabei steht weniger die akribische Sammlung von Detaildaten im Vordergrund, sondern die ganzheitliche Betrachtung des Systems und seiner Zusammenhänge.

Management von Change Prozessen

Die Veränderung des Systemverhaltens erfordert bei vielen Systemen weder die Ausübung von äußerem Zwang, noch den vollständigen Umbau des Systems. 

Insbesondere die Ausübung von Zwang und der Versuch einem System ein anderes, ihm nicht eigenes Verhaltensmuster vorzugeben, führt zu keiner dauerhaften Veränderung des Verhaltens. Die Eigendynamik des Systems führt es unweigerlich zurück in sein altes Verhalten, sobald der Zwang nachlässt.

Auf der anderen Seite ist der aufwändige und kostspielige Umbau eines Systems nicht immer möglich, um dauerhaft ein anderes Verhalten zu erreichen. Komplexe Systeme sind in der Regel in der Lage von sich aus verschiedene Verhaltensmuster zu generieren, wenn die relevanten Kontrollparameter (hiermit ist insbesondere die Energie im System gemeint) verändert werden. 

Solche Veränderungen werden als Phasenübergänge bezeichnet. Sie sind natürlich und nachhaltig und nutzen die systemeigenen Kräfte. Zum Management solcher Change Prozesse bedarf es einer umfassenden Kenntnis der aktuellen Systemprozesse, so dass sensible Phasen im Verlauf der Systemgeschichte identifiziert und genutzt werden können.

Messen von Komplexität

Komplexität von statischen Strukturen und dynamischen Prozessen kann gemessen und quantifiziert werden. In vielen Bereichen können mittels solcher Komplexitätsmessungen verschiedene qualitative Aspekte eines Systems bestimmt werden. So ist z.B. Barockmusik weniger komplex als Free-Jazz, sind komplex fluktuierende Herzrhythmen gesünder als ein starres maschinenartiges Herzklopfen. 

In vielen Fällen ist die organisierte und geordnete Komplexität ein besonders trickreicher Überlebensmechanismus. Die hoch komplexe fraktale Struktur der Lunge, die komplexe Anordnung von Ästen und Laub eines Baumes, die Vielfalt der Arten etc. sind Beispiele, die zeigen, wie eine gesteigerte Komplexität einen besonderen Nutzen nach sich zieht. Auch Unternehmen können sich solcher Tricks bedienen, durch flache Hierarchien, durch Gruppen und Projektarbeit, durch Teilautonome Fertigungsinseln etc.

Die Messung der Komplexität einer Dynamik oder einer statischen Struktur ist dabei ein unabdingbares Werkzeug der Komplexitätsforschung.

Identifikation von Chaos

Chaos ist ein besonders komplexes, nicht mehr periodisches und nicht mehr über längere Zeiträume hinweg prognostizierbares Systemverhalten. Dennoch ist auch Chaos ein geordneter Systemzustand. Chaos lässt sich an seiner hohen Komplexität aber dennoch vorhandenen Ordnung identifizieren. In vielen Fällen repräsentiert Chaos durch seine Empfindlichkeit für äußere Einflüsse ein gesundes und lernfähiges Verhalten.

Dabei sind aber nicht alle chaotischen Systeme gleich chaotisch. Einige Systeme, wie z.B. das Wetter sind über einen praktikablen Zeitraum hinweg prognostizierbar. Andere Systeme können nicht einmal für die nächsten Sekunden vorhergesagt werden (und sind dennoch in sich nicht zufällig und beliebig).

Moderne mathematisch-statistische Methoden erlauben es die Chaotizität einer Dynamik zu bestimmen und so das plötzliche Auftreten von Chaos oder die Veränderung der Dynamik zu identifizieren.

Strategien im Umgang mit Komplexität

Bei komplexen Systemen ist es unmöglich einzelne Bereiche getrennt zu planen oder zu entwickeln. Die verschiedensten Interaktionen zwischen den Elementen erfordern einen Planungs- und Analyseansatz, der nicht auf einer Unsumme an Detaildaten beruht, sondern das Zusammenspiel der Elemente berücksichtigt, denn einzeln perfekt geplante Elemente können im Zusammenspiel sich durchaus ungeplant und nicht mehr steuerbar verhalten. 

Man muss deshalb dazu übergehen, Strategien zu entwickeln, die das Zusammenspiel und die Selbstregulation der Systemkomponenten mit einbeziehen - dh. es muss ein Wechsel vom linearen zum vernetzten Denken erfolgen. Um komplexe Systeme zu erfassen und ihr Verhalten zu verstehen benötigt man einen Planungsansatz, der die komplexe Vernetzung des untersuchten Systems berücksichtigt. Unter Bezug auf die Arbeiten von Dörner können in diesem Zusammenhang sechs Fehler im Umgang mit komplexen Systemen benannt werden:

  • Falsche Zielbeschreibung. Statt auf die Erhöhung der Lebensfähigkeit eines Systems abzuzielen, wird versucht, Einzelprobleme zu lösen. Das System wird abgetastet, bis ein Missstand gefunden wird. Dieser wird beseitigt und man wendet sich dem nächsten Missstand zu und muss unter Umständen schon die Spätfolgen des ersten Eingriffs beseitigen. 

  • Unvernetzte Situationsanalyse. Es werden zwar große Mengen an Daten generiert, diese aber nicht in einen sinnvollen Zusammenhang gebracht. Auf die Erfassung der Ordnungsprinzipien und des vernetzten ganzheitlichen Charakter des Systems wird verzichtet und somit bleibt dessen Dynamik unbekannt.

  • Irreversible Schwerpunktbildung. Man konzentriert sich einseitig auf einen Schwerpunkt und vernachlässigt dadurch andere Bereiche.

  • Unbeachtete Nebenwirkungen. Gesucht wird nach kausalen Wirkungszusammenhängen. Auswirkungen auf Variablen, die nicht im Planungsprozess aufgenommen wurden, werden vernachlässigt. In einem System hat die Veränderung einer Variable aber oft weitreichende Konsequenzen.

  • Tendenz zur Übersteuerung. Eine häufig beobachtete Vorgehensweise folgt folgendem Muster: Man geht zunächst zögernd und mit kleinen Eingriffen an die Beseitigung der Missstände heran. Wenn sich daraufhin im System nichts tut, ist die nächste Stufe ein kräftiges Eingreifen, um dann bei den ersten unerwarteten Rückwirkungen - durch Zeitverzögerung haben sich die ersten kleinen Schritte unbemerkt akkumuliert - wieder komplett zu bremsen.

  • Tendenz zu autoritärem Verhalten. Die Macht, das System verändern zu dürfen, und der Glaube, es durchschaut zu haben, führt zu einem diktatorischen Verhalten, das für komplexe Systeme völlig ungeeignet ist. Steuerung in Systemen sollte aber immer von der Einsicht des in die Autonomie des Systems getragen sein.

Vorhersage von Vorhersagbarkeit

Die Chancen, zu überprüfbaren Prognosen für ein dynamisches System zu kommen, stehen auch für chaotische Systeme gar nicht so schlecht:

  • Chaosfähig bedeutet nicht gleich Chaos. Nichtlineare dynamische Systeme sind chaosfähig, müssen sich in einer gegebenen Situation jedoch nicht unbedingt auch chaotisch verhalten. Das bedeutet aber, dass Prognosen über die Bedingungen und Umstände des Auftretens von Chaos eine weit lohnendere Fragestellung darstellen als der Versuch, die Dynamik eines chaotischen Systems im Detail vorhersagen zu wollen.

  • Der Fingerabdruck eines chaotischen Systems. Chaotische Attraktoren weisen eine innere Ordnung auf, die durch die Form des Attraktors im Phasenraum gegeben ist (vgl. Lorenz-System, Rössler-System, Wege ins Chaos). Damit unterscheiden sie sich grundlegend von stochastischen Prozessen, die jeden Phasenraum vollständig füllen, also überhaupt keine Prognosen ermöglichen. Der chaotische Attraktor eines dynamischen Systems kann daher mit Recht als "Fingerabdruck" (Schiepek & Strunk 1994) des Systems bezeichnet werden. Über die Merkmale eines Attraktors lassen sich also durchaus Prognosen formulieren.

  • Kurzfristige Prognose. Auch während chaotischer Zustände können kurzfristige Prognosen des Systemverhaltens vorgenommen werden. Dabei entscheidet das Ausmaß der Chaotizität über die Grenzen der Vorhersage. 

Insgesamt ist es jedoch wenig sinnvoll, an komplexe Prozesse die gleichen Fragen zu richten, wie sie bei trivialen Prozessen Verwendung finden. Prognosen für komplexe Systeme können sich an folgenden vier Leitlinien orientieren:

  • Prognose einer Dynamik und nicht eines Outputs. Es macht wenig Sinn, den Output eines kreiskausalen Prozesses zu prognostizieren, wenn damit ein zeitlich stabiles Endergebnis gemeint ist. Ein solches kann es in dynamischen Systemen nicht geben. Dort, wo es für klassisch-mechanistische Theorien sinnvoll erscheint, aus den Rahmenbedingungen und Gesetzmäßigkeiten eine (und eben nur eine) Folgerung zu ziehen, ist es für dynamische Systeme sinnvoll, aus den Kontrollparametern und Rahmenbedingungen, den Gesetzmäßigkeiten und den Startwerten des Systems eine Dynamik vorherzusagen. Dass diese Dynamik eben nicht beliebig ist, sondern der Verlaufsgestalt eines Attraktors folgt, ist der Ansatzpunkt für die Prognose dynamischer Systeme.

  • Prognose qualitativer Verlaufsgestalten. Bei bekannten Rahmenbedingungen und Generierungsmechanismen lassen sich für dynamische Systeme die Verlaufsgestalten der Prozessdynamik sehr wohl prognostizieren. Es wird also weniger vorausgesagt, welchen Zustand ein System im nächsten Moment zeigt, als vielmehr, welche grundsätzliche Dynamik es einnimmt, ob es sich homöostatisch, periodisch oder chaotisch verhalten wird. Für den Fall der Homöostase und der periodischen Dynamik sind dann zudem detaillierte Prognosen möglich, die denen für einfache Systeme entsprechen. Aber auch eine chaotische Systemdynamik ist nicht beliebig und zufällig. Auch sie hält sich an die Verlaufsgestalt, den Fingerabdruck des chaotischen Attraktors.

  • Prognose von Phasenübergängen. Da ein und dasselbe System verschiedene Attraktoren in sich vereinen kann, ist es ein wichtiges Ziel der Prognose dynamischer Systeme, Phasenübergänge, das heißt die Zustandswechsel in der Prozessdynamik (vgl.  Wege ins Chaos), zu prognostizieren. Hier können Aussagen über die qualitative Veränderung der Systemdynamik bei Veränderung der Kontrollparameter getroffen werden. Auch hier stehen also qualitative und makroskopische Veränderungen der Prozessgestalt und nicht so sehr konkrete Trajektorienverläufe im Vordergrund der Prognose.

  • Prognosen über die Grenzen von Prognosen. Selbst Chaos ist prognostizierbar, wenn die richtigen Fragen an das System gestellt werden. Im Zusammenhang mit chaotischen Systemen ist es z. B. interessant zu wissen, wie chaotisch ein System ist, das heißt, wie lange es dauert, bis sich ein möglicher Messfehler so stark ausgewirkt hat, dass er selbst Signalstärke erreicht. Aus der Kenntnis des Systems und der Randbedingungen lassen sich hoch chaotische von wenig chaotischen Systemdynamiken unterscheiden und auf der Grundlage von Zeitreihenanalysen überprüfen. In diesem Sinne können dann Prognosen über die Gültigkeit einfacher, auf die konkrete Dynamik bezogener Prognosen angestellt werden.

Abbildung: Therapeutischer Schmetterlingseffekt

Die Abbildung zeigt Daten von zwei depressiven Patienten. Beide schätzen mit einem täglichen Fragebogen ihre Problembelastung ein und starten bei sehr ähnlichen Werten, die sich dann schnell auseinander bewegen (Divergenz) aber zwischenzeitlich auch wieder zueinander finden (Konvergenz). Beide Prozesse sind typisch für deterministisches Chaos.
(Mehr dazu: Strunk, G. & Schiepek G. (2014) Therapeutisches Chaos)

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