Leben wir in einer immer komplexer werdenden Welt?
Komplexität als Modebegriff
Mitte 2022 findet sich die Behauptung, dass wir in einer immer „komplexer werdenden Welt“ leben laut Google wortgleich 54.000 Mal im deutschsprachigen Internet. Die englische Übersetzung liefert sogar über 33 Millionen Treffer für die wortexakte Suche nach „increasingly complex“.
Damit scheint "Komplexität" eines der zentralen Modeworte der letzten
Jahre zu sein. Gleichzeitig wird eine zunehmend steigende Komplexität
konstatiert und werden daraus weitreichende Schlussfolgerungen für
zahlreiche Bereiche des menschlichen Lebens abgeleitet. Komplexität wird im
alltäglichen Sprachgebrauch, in den Reden von Politikern und in Fachartikeln
mal als treibende Kraft und mal als Folge des Zeitgeistes interpretiert.
Zurückgeführt wird eine wachsende Komplexität z. B. auf die zunehmende
Verflechtung der Weltwirtschaft, globale Informations- und
Kommunikationssysteme oder technische Innovationen. Dabei werden Folgen
diskutiert für:
- Individuen,
- Organisationen,
- Wirtschaft,
- Gesellschaft.
Trotz der zentralen Bedeutung des Komplexitätsbegriffes bleibt eine Definition – auch in wissenschaftlichen Aufsätzen – häufig nebulös oder wird gar nicht angeboten. In einigen Aufsätzen wird Komplexität über die Zahl der Variablen des Systems definiert. In dieser recht einfachen Definition wird jedoch die Dynamik der betrachteten Systeme vernachlässigt; auch die Struktur des Systems und der Charakter seiner Wechselwirkungsbeziehungen spielen dort keine wesentliche Rolle.
Wenn man sich vor Augen führt, wie im Fußballstadion 30.000 Fans beim Siegestreffer ihrer Mannschaft alle zugleich in Jubel ausbrechen und dabei jede Individualität vermissen lassen, kommen schnell Zweifel, ob die Komplexität eines Systems nur von seiner Größe, also der Zahl der beteiligten Elemente abhängt. Mitunter scheint jedenfalls auch das Gegenteil der Fall zu sein.
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Aus einer wissenschaftlichen Perspektive stellen sich daher eine Reihe von Fragen:
Abbildung: Veränderung der Potenziallandschaft bei einem Phasenübergang
Die Abbildung stellt in drei Schritten dar, wie sich die so
genannte Potenziallandschaft bei einem Phasenübergang verändert. Die
Metapher der Potenziallandschaft kennzeichnet attraktive Systemzustände als
tiefe Täler und unattraktive als hohe Berge oder steile Wände. Im Attraktor
(a) sind die steilen Wände und das Tal klar ausgeprägt, die Kugel, die das
Systemverhalten repräsentiert, rollt nach einer Auslenkung schnell zurück in
den Attraktor. Das Einzugsgebiet des Attraktors wird in der Nähe zum
Bifurkationspunkt zunächst flacher (b) und geht im Bifurkationspunkt in
einen Potenzialhügel (so genannter Repellor) über (c).
(Mehr dazu: Strunk, G. & Schiepek G. (2014) Therapeutisches
Chaos)